Rückschulung auf links: Die Rückkehr des Ich. Teil 2: Entfaltung und neuer Raum

Ein großer Bereich ist das Ich der Persönlichkeit, die eigene Wahrnehmung dieses Ich und die Fähigkeit, dieses Ich in der inneren und äusseren Wirklichkeit umzusetzen. Diesen Prozess, der mehr oder weniger das ganze Leben andauert, möchte ich hier als die Entfaltung des Ich bezeichnen. Demzufolge ist das Ich und seine Entfaltung von zwei Faktoren abhängig: von sich selbst und den Erfahrungen, die es mit sich macht, also auch von der Umwelt und ihrer Reaktion auf das Ich.

Der Prozess der Rückschulung, vor allem das tägliche Schreiben mit links, löst nun als Resultat der Umstrukturierung des Gehirns, verschiedene Veränderungen aus. Die Umstrukturierung des Gehirns ist eine Art Rückstrukturierung, weil durch das rechtshändige Tun wieder zu einer Balance zurückgefunden wird, die das Gehirn vor der Umschulung hatte. Als Umschulung wird das Benutzen der anderen Hand, die der natürlichen Händigkeit nicht entspricht, bezeichnet. In den meisten Fällen ist dies die rechte Hand anstatt der linken. Diese Veränderung durch die Rückschulung ist aber keine wirkliche Rückstrukturierung des Gehirns, weil das Gehirn sich ständig organisiert durch neue Erfahrungen, Bewusstwerden, Vergessen und andere Vorgänge. Deshalb kann das Gehirn in keinem Fall als gesamtes Organ wieder zu einer Struktur zurückfinden, die es in der Vergangenheit einmal besaß.

Trotzdem gibt es Teile, die ähnlich oder gleich wieder hergestellt werden können, wie es früher der Falll war. Zumindest fühlt es sich für die von der Rückschulung betroffenen meist so an. Ein Teil, oft ein sehr großer Teil von längst verloren geglaubten Fähigkeiten oder anderen Strukturen kann durch die Rückschulung zurückkehren. Dies betrifft auch die Wahrnehmung und die Fähigkeiten des eigenen Ich. Es gibt wieder ein Gefühl zum Selbst, das früher, in den meisten Fällen vor der Einschulung und dem Schreibenlernen mit rechts liegt, noch vorhanden war. Es ist ein natürliches, selbstverständliches Gefühl von bei-sich-sein, von in-der-eigenen-Mitte sein. Dieses Gefühl war über die Jahre der Umschulung verlorengegangen.

Im Zuge der Rückschulung kommt es deshalb einfach nur durch die tägliche Schreibübung mit der linken Hand, zur Rückkehr des Ich in die Wirklichkeit der betreffenden Person. Und erst mit dem neuen alten Ich, kann dieses auch entfaltet werden. Dies bedeutet ganz konkret, dass viele umgeschulte Menschen jahre-, oft jahrzehntelang in unpassenden Beziehungen und Berufen feststeckten, sich unwohl fühlten, aber nicht wussten, wo sie anstattdessen sein wollten oder sein könnten. Ihr Selbst war ihnen abhanden gekommen und so konnten sie keine geeignete Welt für dieses Selbst finden, das verschwunden war. An seiner Stelle war das künstliche, eben nicht echte Selbst des umgeschulten Menschen getreten. Zu diesem Selbst passten die Begegnungen, die Berufe. Aber da dieses Selbst nicht dem echten entsprach, fühlten sich die Menschen auch nie wirklich wohl in diesem Leben, das ihres war und sich dabei aber nicht wirklich gut und passend anfühlte.

Mit dem Prozess der Rückschulung und dem schrittweisen Auftauchen des Ich kann die Person nun endlich die Menschen und die Tätigkeiten finden, die dazu passen, die wirklich zu ihr passen. Oft bedeutet dies eine Umstrukturierung von Freundes- und Bekanntenkreis, von Beziehungsverhältnissen in der Familie. Oft bedeutet es auch eine berufliche Veränderung. Das Auftauchen des Ich und die ersten Schritte der Entfaltung werden meist als fast durchgehend positiv erlebt. Es ist das Nachhausekommen nach jahrelanger, oft jahrzehntelanger Suche. In diesem Zuhause sich selbst in neuem/altem Urvertrauen zu finden, in dieser Kraft, die natürlicherweise eigentlich immer beim Selbst ist, bei dem, das so lange verloren war. Dieser Prozess ist so tief und so nachhaltig und stimmig, dass er als überaus positiv erlebt wird.

Aus diesen ersten inneren Schritten folgt dann bald eine zunächst unsichere weil neue, ungeübte, dann aber immer freudiger beschrittene Selbstverwirklichung. Das neue alte Selbst, das nun endlich in die Wirklichkeit gebracht werden kann. Die Entfaltung des Potentials wird unterstützt von neuen alten Fähigkeiten beispielsweise von der vorher nur beschränkt oder gänzlich unmöglichen Fähigkeit zu Lebendigkeit, Offenheit und Spontanität, zu direktem Kontakt mit den eigenen Gefühlen und der eigenen Intuition. Auf der körperlichen Seite gibt es oft einen Durchbruch in der Benutzung von Dingen wie Musikinstrumenten oder Sportgeräten. Auch wenn manche Grundzüge bestehen bleiben, ist es für die Person, als würde sie wie Phönix aus der Asche neu entstehen in einer viel kraftvolleren und schöneren Version als das alte, künstliche Umschulungs-Ich. Mit diesem Prozess geht neben dem Aufwand des ständigen Übens um Umlernens der Händigkeit im Alltag ein großer Teil von Freude, Kraft und erfrischenden neuen Erfahrungen einher.

Mehr zum Thema:
Rückschulung auf links: Die Rückkehr des Ich. Teil 1: Einleitung
Rückschulung auf links: Die Rückkehr des Ich. Teil 3: Entfaltung und neue Grenzen

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