Fahrradunfälle, Statistiken und Interpretationen

Was kann eine Statistik? Was kann mit einer Statistik getan werden?
Statistiken können ein sehr hilfreiches Mittel sein, um Sachverhalte genauer zu beleuchten. Allerdings ist dafür sehr wichtig, wie die Statistiken erhoben werden. Denn die Antwort hängt immer von der Frage ab.

Wenn die Statistik die Antwort ist – was war die Frage? Um es noch unübersichtlicher zu machen, wird die Statistik fast nie mit dem gesamten Aufbau dahinter angegeben, was zu einem umfassenderen und besseren Verständnis beitragen würde. Weiterhin wird oftmals nicht einmal mehr die Statistik genau angegeben, sondern einzelne Teile werden herausgepickt und mit Interpretationen versehen, die als zwingende Schlussfolgerungen dargestellt werden. So können Statistiken sehr einfach missbraucht werden, um die jeweils eigene Position scheinbar zu belegen.

So auch bei Unfallstatistiken, die Radfahrende betreffen. In der neuen Ausgabe der RADWELT, dem adfc-magazin, wird ausführlich darüber berichtet. Verkehrsminister Ramsauer möchte unbedingt gerne die Helmpflicht einführen und bringt das Thema immer wieder ins Spiel. Nun will er seinen Standpunkt mit neuen statistischen Zahlen belegen. Ramsauer: „Wir beobachten mit großer Sorge und Betroffenheit, dass das Unfallgeschehen bei Fahrradfahrern dramatisch zunimmt, gerade im städtischen Bereich“.

Dazu schreibt RADWELT „wo er (Ramsauer) diese dramatische Zunahme sieht, bleibt sein Geheimnis, denn die Unfallstatistik 2010 weist weniger Unfälle und Todesopfer bei Radfahrern auf, als der langjährige Durchschnitt. Der Minister demonstriert die beliebte Praxis, Statistiken zu verzerren …“

Ein genauer Blick auf beide Positionen und die Statistiken
Aus meiner Sicht versuchen beide Seiten, ihre Meinung mit angeblich sachlichen Argumenten zu untermauern. Ich möchte hier versuchen, so genau wie möglich bei den Zahlen zu bleiben und so komplex wie möglich zu beleuchten, was die Zahlen bedeuten könnten. Und so zu sehen, welches Argument bestehen bleibt und welches nicht.

Hierfür sind folgende Fragen zu klären:
Wieviele Verkehrstote (Radfahrende) gab es in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr laut offizieller Statistik? Wieviele Unfälle gab es, ebenfalls in der offiziellen Statistik? Und hinter dem absoluten, statistischen Wert der Statistik, welcher tatsächliche Wert könnte dahinter stehen? Welchem prozentualen Anteil entspricht die absolute Zahl? Wie hoch ist der prozentuale Anteil der verunglückten Radfahrenden? Welche Faktoren können noch einen Einfluss haben auf die Zahl der Verkehrsunfälle? Ist die angegebene Zahl der Unfälle gleichzusetzen mit der tatsächlich geschehenen Zahl der Unfälle? Welche Zahl könnte hier angesetzt werden, um einen echten Vergleich zu ermöglichen?
Welchen Bezug hat schliesslich die Unfallquote zur Helmpflicht? Gibt es den von Ramsauer unterstellten Bezug von mehr Helmtragenden und weniger Unfällen, weniger Verletzten, weniger Toten überhaupt?

Der Vergleich: wer hat recht: Ramsauer oder ADFC?
Zunächst beginnen beide Parteien völlig unsachlich, indem sie von Radfahrern reden. Die Statistik sagt nichts aus über das Geschlecht, also gelten die Zahlen ganz klar für Radfahrerinnen und Radfahrer, kurz: Radfahrende. Kein Punkt an beide.

Zahl der Verkehrstoten ist gesunken
Die Zahl der Verkehrstoten ist insgesamt wie die ganzen letzten Jahre gesunken. Hier der Link zu einer Unfallstatistik der letzten Jahre nach Art der Verkehrsbeteiligung (Radfahrende, Motorrad, Fussgehende etc.): http://www.dvr.de/betriebe_bg/daten/tabelle2.htm
Dieser Punkt geht an den ADFC. Ramsauer hat Unrichtiges behauptet.

Allerdings ist die Zahl der Unfälle insgesamt gestiegen, sagt die Statistik
http://www.parkplatzschild.eu/statistiken/unfallstatistik/

Der ADFC schreibt, dass die Unfallstatistik 2010 weniger Verkehrstote und Unfälle bei Radfahrenden aufzeigt als im Durchschnitt die Jahre davor. Trotzdem liegt sie höher als im Jahr zuvor. Die Formulierung suggeriert, dass die Zahl nicht gestiegen ist, was aber der Erhebung widerspricht.
Dieser Punkt geht nicht an den ADFC.

Absolute und relative Zahlen
Für eine klare Aussage fehlen weitere Zahlen. Die erste Frage: Wieviele Menschen sind 2010 und die Jahre davor täglich für wieviele Kilometer auf den Strassen und Wegen unterwegs?

Insgesamt gibt es Zahlen, dass die Fahrradfahrenden in den letzten Jahren und Jahrzehnten in Deutschland kontinuierlich zunehmen.

Hierzu eine Beispielstatistik: Anzahl der Fahrräder in Deutschland (in Millionen)
1965: 19,3
1990: 51,9
1995: 73,5
2000: 74,5
(Quelle: http://www.erdoelinamazonien.org/fileadmin/downloads/fahrrad.pdf)

Eine weitere wichtige Frage: Wieviele Unfälle von denen, die tatsächlich passiert sind, wurden auch zur Anzeige gebracht, das heisst statistisch erfasst?

Hierzu habe ich leider keine Angaben gefunden, aber insgesamt steigen die Zahlen von Menschen hier in Deutschland, die bereit sind, ihre Rechte vor Gericht zu erstreiten. Das bedeutet im ersten Schritt auch eine steigende Anzahl an Anzeigen bei der Polizei. Im Fall der Fahrradunfälle bzw. Verkehrsunfälle können nur die in der Statistik auftauchen, die auch bekannt werden. Bei vielen Verkehrsunfällen wird die Polizei und Versicherung nicht verständigt. Dies gilt vor allem für Fälle, bei denen kleinere Schäden entstehen oder die Schäden zunächst kleiner aussehen.

Dies betrifft meistens Fälle, in denen Autos nicht oder nur gering zu Schaden kommen, Fahrräder und Fahrradfahrende aber stärker betroffen sind, weil sie keine Blechschutzzone um sich haben wie die Autos. In den meisten Fällen befinden sich die Betroffenen im Schock, so dass sie in der Situation nicht genau einschätzen können, wie groß der Schaden wirklich ist. Wenn nicht viel Blut fliesst, wird oft auf ein Bagatellverletzung geschlossen und deshalb keine Polizei benachrichtigt. Die Langzeitschäden, die sich oft erst später genauer zeigen, haben dann die Verletzten alleine zu tragen.

Dies zeigt, dass die Unfallzahl, die in den Statistiken auftaucht, nicht der echten Unfallzahl entspricht. Es ist deshalb anzunehmen, dass im Unfallbereich ebenso wie in anderen Bereichen, beispielsweise dem medizinischen, die Zahl der Menschen steigt, die sich ihrer Rechte bewusst sind und sie auch in Anspruch nehmen wollen. Dies führt dazu, dass zunehmend Betroffene einen Unfall bei der Polizei melden. Dies wiederum führt zu einem Anstieg der Unfallstatistik – der relative Wert der angezeigten Unfälle steigt. Dies muss nicht gleichzeitig bedeuten, dass die absolute Zahl an Unfällen dementsprechend oder überhaupt gestiegen ist.

Wie ist der Zusammenhang von Radfahrunfällen und Helmpflicht?
Der Artikel des ADFC führt einen wichtigen Punkt an: der Anteil der Fahrräder am Gesamtverkehr. Und daraus resultierend ein verändertes Verkehrsverhalten aller Verkehrsteilnehmenden.

Beispielsweise in den Niederlanden werden 28 Prozent der Strecken mit dem Rad zurückgelegt, in Deutschland sind es im Durchschnitt unter 20 Prozent. Und nicht nur obwohl, sondern weil dort mehr Menschen Rad fahren, liegt die Quote, bei einem Radunfall zu Tode zu kommen, niedriger: in den Niederlanden ist es 1,1, im Vergleich dazu in Deutschland 1,7 (auf eine Million gefahrener Kilometer).

Dies ist ein sehr wichtiges Argument in der Frage Unfallstatistik und Helmpflicht: die Helmtragequote in den Niederlanden tendiert gegen Null, trotzdem kommen weniger Menschen zu Tode bei Radunfällen. Die Statistik in Deutschland zeigt ausserdem, dass weniger Menschen sterben, obwohl immer mehr Menschen Rad fahren. Auch hier sinkt durch mehr Fahrräder auf der Strasse die Unfallquote.
Dies ist eindeutig ein Punkt für den ADFC und nicht für Ramsauer.

Die Helmquote, die Ramsauer will, würde natürlich nicht die Unfallquote senken, sie würde im besten Fall nur die Todesrate bei den Unfällen senken. Dies ist, besonders gemessen an den Zahlen aus den Niederlanden, ein mehr als kurzsichtiges Unterfangen. Dabei unberücksichtigt bleibt, dass Menschen, wenn sie sich geschützter fühlen, oft mehr Risiken eingehen. Übertragen auf die Helmpflicht würde das bedeuten, dass sowohl Rad- als auch Autofahrende riskanter fahren, weil sie annehmen, dass die Person mit dem Helm geschützt ist, wenn ein Unfall passiert. Dies würde sogar zu einer erhöhten Unfallrate führen.

Zusammenfassung von Statistiken, Fragen und Antworten
Insgesamt geht die Tendenz zu mehr Radfahren und dadurch zu weniger Unfällen im Verhältnis dazu. Auch wenn teilweise die absoluten Zahlen etwas gestiegen sind, ist der Prozentsatz an Unfällen trotzdem rückläufig, wenn die gestiegene Zahl der Radfahrenden in die Rechnung miteinbezogen wird.

Wichtig ist und bleibt: je mehr Fahrräder auf den Strassen und Wegen, je mehr Fahrradwege, je mehr fahrradfreundliche Verkehrsplanung, je weniger Unfälle, je mehr Gesundheit für das Individuum, die Gemeinschaft und die Umwelt.

Ob die einzelne Person einen Helm trägt, bleibt ihr überlassen. Es gibt keine Helmpflicht in Deutschland.

Viel Spass beim Radfahren!

Die Angaben im Text beziehen sich auf RADWELT dez/jan 6.11

1 Kommentar

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Hans-Peter Peil
3. Juli 2015 um 11:25

Sehr geehrte Frau Hofmannn,

Interessant wäre es auch den Anteil von Kopfverletzungen

von den Geamtheit der Fahrradunfälle zu berücksichtigen.

Mit freundlichen Grüßen

Hans-Peter Peil

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